Prof. Dr. Friedrun Quaas

Forschungsseminar Politik und Wirtschaft

Vortrag 11.5.2006

 

Wirtschaftspolitische Steuerung aus der Perspektive der Evolutorischen Ökonomik

 

 

Ausgangsfrage: Gibt es ein wirtschaftspolitisches Steuerungsproblem?

Antwort: ziemlich eindeutig „Ja“, wenn man die theoretische Debatte, aber auch den empirischen Befund der Wirkungen praktischer Wirtschaftspolitik ernstzunehmen geneigt ist.

 

Anschlussfrage könnte sein: Ist etwa das Ende der Wirtschaftspolitik erreicht? (analog: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992)

Antwort: fällt je nach theoretischem und politischem Standort verschieden aus.

Als Keynes 1936 „das Ende des laissez-faire“ verkündete, konnte er schließlich nicht wissen, dass in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Aufnahme vor allem der Positionen Friedmans, die gegenteilige Philosophie wieder an Boden gewinnen würde, die heute darin einen gewissen Kulminationspunkt findet, dass von Politikineffektivität (Robert Lucas) oder – etwas zugespitzt – von totaler wirtschaftspolitischer Handlungsunfähigkeit gesprochen wird.

 

Die damit verbundene Kritik bezieht sich auf der Ebene der Theorie also mindestens in 2 Dimensionen:

1.    die steuerungstheoretische Dimension,

2.    die Dimension wirtschaftspolitischer Beratung.

 

Was hat das Weltbild der Evolutorischen Ökonomik zur Perspektive dieser beiden Dimensionen beizutragen?

 

These: Moderne politisch-ökonomische Theorie auf der Basis der Evolutorischen Ökonomik kann sich nicht ausschließlich auf Beschreibung und Erklärung ökonomischer Prozesse beschränken (lassen), die Beratungsaufgabe kommt konstitutiv hinzu.

 

Plausibilisierung:

1.              Die kritisierte idealtypische Vorstellung von Wirtschaftspolitik als Sozialtechnologie (Ziel-Mittel-Modell) wird als nicht akzeptabel empfunden. Dagegen sprechen die Erkenntnisse des modernen philosophischen Diskurses, der die Wechselwirkung von positiver und normativer Analyse hervorhebt. (Sog. Brückenprinzipien: „Sollen impliziert Können“ und „Können impliziert Dürfen“ bei Günter Hesse)

 

2.              Die Auffassung, es gebe „neutrale“ Mittel der Wirtschaftspolitik ist weitgehend gegenstandsverfälschend und verkennt die Interdependenz von Zielen und Mitteln der Wirtschaftspolitik. Das traditionell instrumentalistische Konzept der Politikberatung ist zwar komplexitätsreduzierend, aber es reduziert Komplexität nicht problemadäquat.

 

3.              Die Stabilität ökonomischer Kausalstrukturen ist nicht einfach voraussetzbar, sondern zu testen, z.B. durch Modelle, die die Wechselwirkung zwischen politischem und ökonomischem System anhand der Wirkung wirtschaftspolitischer Maßnahmen analysieren.

 

4.              Die kritisierten technokratische Konzeptionen der Politikberatung geraten schnell in die Gefahr der Demokratieignoranz, indem sie sich am benevolenten, omniscienten und omnipotenten politischen Entscheidungsträger ausrichten. Demokratie als Legitimationsverfahren kollektiven Handelns wird systematisch ausgeblendet (Kritik der normativen Institutionenökonomik am technokratischen Modell).

 

Methodische Anforderungen an die Analyse des Verhältnisses Politik-Wirtschaft sind im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomie und der Theorie der rationalen Erwartungen bereits weitgehend berücksichtigt, so dass man sich wiederum fragen muss, was das Spezifikum der EÖ ausmachen soll. Im Detail sind  - jenseits der EÖ -  bereits vorgenommen:

 

1.      logische Analyse politischer / kollektiver Entscheidungen (Arrow, Black, Sen, Tullock)

 

2.      empirische Untersuchung politischer / kollektiver Entscheidungen (Lucas-Kritik ökonometrischer Politikberatung: grundsätzlich wird die Annahme der Strukturkonstanz des ökonomischen Modells bei makropolitischen Interventionen bezweifelt, also die Möglichkeit zielgerichteter Interaktion zwischen politischer und ökonomischer Sphäre. Robert Lucas setzt dabei auf die Theorie der rationalen Erwartungen. Diese geht davon aus, dass nur nicht-antizipierte politische Maßnahmen reale Effekte haben, man dürfte im Sinne der Politikeffektivität also bestimmte Maßnahmen nicht vorher verraten, weil die Wirtschaftssubjekte sonst antizipatorisch darauf eingehen.)

 

3.      normative Kritik politischer / kollektiver Entscheidungen (normative Institutionenökonomik)

 

Nochmals also: was kann die EÖ überhaupt beitragen, wenn andere Zweige der modernen Wirtschaftspolitik hier schon längst Reaktionsbedarf angemeldet und zum Teil auch eingelöst haben?

 

Lassen Sie mich dazu ein paar Bemerkungen machen, also nun zum

 

 

Verständnis evolutorischer Wirtschaftspolitik

1. Bemerkung:

Ausgangspunkt ist ein weit gefasster Begriff der Evolutorik, d.h. nicht schlechthin das Kriterium der Neuheit (Innovation), das allerdings konstitutiv ist, muss Berücksichtigung finden, sondern ebenso das Kriterium der Vielfalt (Pluralität). 

Die Heterogenität und damit verbunden die Mehrdimensionalität des evolutorischen Gedankengutes kann heuristisch genutzt werden und positiv in ein mehrdimensionales Verständnis von Wirtschaftspolitik transformiert werden.

Das stellt geschlossenes Systemdenken allerdings möglicherweise sofort in Frage.

Anders ausgedrückt, Evolutorische Wirtschaftspolitik ist - jedenfalls bis jetzt -  alles andere als eine kohärent handlungsanleitende Disziplin.

Oder noch anders ausgedrückt, es gibt durchaus so etwas wie eine Identifikationsproblem evolutorischer Wirtschaftspolitik, das auf die fehlende Einheit des evolutorischen Paradigmas generell zurückzuführen ist. Der von Evolutorikern gern anvisierte bevorstehende Paradigmenwechsel, der die traditionell neoklassiche Konzeption ablösen könnte, ist wohl noch nicht in Sicht. Man muss viel vorsichtiger sein. Wahrscheinlich befindet sich die EÖ sogar noch in einem vorparadigmatischen Zustand.

 

(Exkurs: Das ist so schlimm nicht, sondern eröffnet ja gerade Perspektiven für ein Forschungsprogramm, an dem man sich versuchen kann, das wir ja in der Lehre bereits partiell umsetzen, das aber viel umfassender ist, als man in ein paar Lehrveranstaltungen umsetzen könnte.

Vielfalt ist ja geradezu ein Basispfeiler der evolutorischen Denkweise und äußert sich eben auch in der Vielfältigkeit der erkenntnistheoretischen, methodologischen und weltanschaulichen Perspektiven, die insgesamt versuchen, in der EÖ Fuß zu fassen. Das ist nicht immer komfortabel und bedeutet vor allem, dass man sich wahrscheinlich von der Vorstellung einer Supertheorie der Wirtschaftspolitik verabschieden muss.

 

Vielleicht lässt sich das Ganze aber auch als Chance begreifen, bei der aus der Not eine Tugend gemacht wird. Vielleicht ist ja gerade die Pluralität und Heterogenität der Perspektiven fruchtbringend für die Dynamik der Theorieentwicklung und auch für die Umsetzung in Politikberatungsleistungen.

 

Analog kommt man mittlerweile auch auf die Idee, dass die als unzureichend empfundene Politikberatungspotenz des neoklassischen  Paradigmas ihre Ursache in der paradigmatischen Einheit hat, die sich sozusagen wie eine schöne runde Kugel mit glatter Oberfläche vor allen Zudringlichkeiten des alltäglichen ökonomischen Überlebenskampfes schützt. Ein schönes Beispiel wäre hier die Ausblendung des Verteilungsproblems aus der neoklassischen Wohlfahrtstheorie (1. und 2. Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik)

 

2. Bemerkung

Die Interpretation von Wirtschaftspolitik im evolutorischen Verständnis umfasst:

a) die erkenntnistheoretischen Grundlagen,

b) die normativ-wohlfahrtstheoretische Bündelung der Erkenntnisse zu einer Theorie rationaler Wirtschaftspolitik (entgegen der Behauptung, dass es nach Arrows Diktatortheorem keinen wirklich gelungenen Schritt von der individuellen zur kollektiven Wirtschaftspolitik geben kann).

Die wohlfahrtsökonomische Basis bedeutet in diesem Fall nicht die primäre Ausrichtung an Endzustands- oder Sollgrößen.

Hier ist das erkenntnistheoretische Problem unvollständigen Wissens ernstzunehmen, das in diesem Kontext zeigt, dass Sollgrößen nicht 100%ig sinnvoll ansteuerbar sind. Die Steuerungsebene muss also erweitert werden, Dies geschieht z.B. durch die Einbeziehung normativer Prinzipien. (Gerechtigkeit als normatives Prinzip der Wirtschaftspolitik ist sicher etwas anderes als das Festsetzen des Steuersatzes auf eine bestimmte Höhe.)

c) die konkrete Politikberatung.

 

3. Bemerkung

Evolutorische Wirtschaftspolitik muss bei aller Vielfalt der Ansätze und auch der Pluralität in der Entwicklung politökonomischer Eingriffe und Prozesse selbst  zurückgreifen auf verallgemeinerbare Muster. Damit begegnet sie dem naheliegenden a-prori Vorwurf einer Einzelfallpolitik, der Stückwerktechnologie oder einer rein historisch inspirierten Politik.

 

4. Bemerkung:

Die Felder evolutorischer Wirtschaftspolitik können dabei durchaus in der üblichen Typisierung nach materiellen Bereichen erzeugt werden (Geldpolitik, Finanzpolitik, Industriepolitik, Prozesspolitik, Wachstumspolitik ...)

Die viel interessante Frage sehe ich aber darin, wie man von einer vorgelagerten abstrakten Problemformulierung aus den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analyse setzt. Im Falle der Wirtschaftspolitik liegt diese abstrakte Problemformulierung auf der Hand; es ist die prinzipielle Frage nach den Interventionsmöglichkeiten und den Interventionsbedingungen des Staates im Bereich der Wirtschaft.

Damit ist die Frage nach der Interdependenz der Bereiche des Ökonomischen und des Politischen aufgeworfen, die uns beim letzten Mal beschäftigt hat und auf die zurückzukommen ist, weil, wie wir gleich sehen werden, die Luhmannsche Systemtheorie in der Literatur als eine der Entwicklungslinien der EÖ verstanden werden. Und Luhmann lehnt mit seiner Theorie die Interdependenzthese ja gerade ab, jedenfalls war das ja wohl der Stand der Diskussion vom letzten Mal.

Ordungstheorie und Ordnungspolitik sowie die Institutionenökonomik liefern in der Frage der Interdependenz dagegen wenigstens entsprechende Vorläufer.

 

5. Bemerkung

Das Spezifisch Evolutorische lässt sich am ehesten noch identifizieren in einer Art indirekter Bestätigung, nämlich der Abkehr von Kriterien, die das Evolutorische eben nicht ausmachen:

 

a) Man kann sicherlich aus der empirischen Tatsache, dass eine konkrete Wirtschaftspolitik einmal erfolgreich war oder momentan vielversprechend ist, nicht unmittelbar schließen, dass diese evolutorisch sei, weil sie den faktisch bestmöglichen Zustand  herbeiführen würden, der sich mit ihrer Hilfe im Prozess der natürlichen Auslese herstellen würde.

Damit würde man nur dazu beitragen, eine bewusste Immunisierungsstrategie der evolutorischen Wirtschaftspolitik zu bedienen.  Eine solche Quasi-Immunisierung ist nichts außergewöhnliches; sie passiert - nebenbei bemerkt - z.B. immer dann, wenn man dem Ehrhardschen Wirtschaftswunder eine solche Rolle à la Dr. Pangloss beimisst. (In dem Sinne ist mein Buch „SMW - Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts“ oft falsch interpretiert worden. Manchmal habe ich mich regelrecht vereinnahmt und in Brüderlichkeit erstickt gefühlt, und zwar weniger von den wirklichen Feinden als von den falschen Freunden.)

b) Die Politikineffektivitätsthese von Lucas, die suggeriert, dass die ökonomische Welt sich immer dann am besten entwickeln würde, wenn der Staat überhaupt nicht oder möglichst wenig eingreift, ist nichts anderes als ein Werturteil, das die prinzipielle Stabilität des privaten Sektors unterstellt, aber nicht wissenschaftlich beweist. Der Hinweis auf Transaktionskosten und Politikversagen reicht jedenfalls nicht, um die Legitimität von Wirtschaftspolitik bei Marktversagen auszuhebeln.

Analog ist der Schluss auf ein interventionsfreies Marktsystem nicht die logische Konsequenz aus dem ökonomischen Ansatz, wie oft unterstellt wird, sondern letztlich ein  Dogma, und noch dazu ein reichlich konservatives (Hirschman). Zu vermuten wäre vielmehr, dass prinzipiell jede politische Position  mit dem ökonomischen Ansatz vereinbar ist, also z.B. auch eine ausdrücklich interventionistische Politikkonzeption.

 

 

Wenn man neben der Negativabgrenzung nun aber doch etwas positives zur Bestimmung der Inhalte der Evolutorischen Wirtschaftspolitik beitragen möchte, dann tut man das am besten theoriehistorisch mit Bezug auf die Entwicklungslinien.

 

Daran zeigt sich noch einmal, dass Evolutorische Wirtschaftspolitik die eben beschriebene offene Programmatik hat oder - wie Ebert das ausdrückt - Polyperspektivität.

 

Der Reiz dürfte nach meinem Dafürhalten darin liegen, nach Verbindungen zwischen diesen Entwicklungslinien und den aktuellen Strömungen zu suchen, und zwar sowohl vertikal als auch horizontal.

 

Darin spiegelt sich kein Selbstzweck, sondern dies ist im Sinne einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit zwischen den Strömungen gedacht. Ohne diese Kommunikation scheint mir ein gemeinsamer Rahmen „Evolutorische Ökonomik“ nur schwer vorstellbar zu sein.

Der kommunikationsorientierte Aspekt scheint mir auch gestützt zu sein durch wissenschaftstheoretisch-philosophische Strömungen. In Frage kommen Konstruktivismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie, Transzendentaler Realismus.

 

 

 

Ich übernehme hier die Darstellung von Werner Ebert, der sich wiederum an Geoffrey Hodgson orientiert: Economics and Evolution. Bringing Life Back into Economics, 1992, S. 49

 

Wenn Luhmann mit seiner Systemtheorie als Bestandteil der Evolutorischen Wirtschaftspolitik fungiert, dann ist dies zumindest vor dem Hintergrund unserer Debatte in der vorigen Woche interessant.

Wie steht es nun mit der These von der Nichtsteuerbarkeit?

 

Das Steuerungsproblem in seiner systemtheoretischen Form konnten wir wie folgt identifizieren:

Luhmann’s Argumentation geht im wesentliche darauf hinaus, dass gesellschaftliche Subsysteme ihre eigenen Kommunikationsmedien und Codes besitzen, die eine Kommunikation zwischen Subsystemen und damit eine Steuerung über diese Medien nicht ermöglichen. Konkret: Das selbstorganisierte Subsystem Wirtschaft lässt sich nicht über das Subsystem Politik steuern, weil der Grad der Autonomisierung zu hoch sei.

Die Ökonomie als weitgehend autonomes System organisierter Komplexität entziehe sich aufgrund kommunkiativer Wechselbeziehung zu anderen System einer hierarchischen Außensteuerung durch das politische System.

 

Um hier authentisch zu bleiben: Luhmann schreibt in seinem Artikel „Politische Steuerung“ in der Politischen Vierteljahresschrift 1989:

“Das politische System kann nur sich selbst steuern. Daß dies geschieht und wie dies geschieht, hat ohne Zweifel gewaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft. Aber dieser Effekt ist schon nicht mehr Steuerung und auch nicht mehr steuerbar.“